Strand-Geschichten eines Schreibwettbewerbs der TAZ - veröffentlicht auf Ferienwohnungen watt-meer.de

Eine letzte Reise

von STEPHANIE WOHLERS (15. Preis)

Das kühle Wasser umspielte ihre vor Kälte schon fast blauen Füße. Sie dachte an den Abend. Heute würde sie ihn treffen. Sie hatten sich am Strand verabredet, um Mitternacht. Ihre Hände zitterten. Sie griff nach dem Handtuch, das sie neben sich in den weichen, von der Sonne aufgeheizten Sand gelegt hatte, und trocknete ihre Füße ab. Die Möwen kreischten. Ein kleines Segelboot kämpfte weit draußen mit dem heftigen Seegang. Es würde ein Gewitter geben, sie wusste es, auch wenn sich an dem strahlend blauen Abendhimmel noch keine einzige Wolke abzeichnete. Aber sie spürte den Wind. Sie stand auf und ging ein paar Schritte. Ihre Fußspuren gruben sich in den Sand und wurden gleich darauf von der Brandung weggespült. Der Wind zerzauste ihr dünnes Haar, so dass es aussah wie fliegendes Gold.

Sie setzte ihren Weg fort und erreichte das kleine Strandhaus, das sie für diese Woche gemietet hatte. Sie öffnete die Tür und sofort strömte ihr der Geruch der Holzmöbel entgegen. Sie blieb einen Moment stehen und genoss ihn. Im Hintergrund rauschte das Meer.

Alles, was sie noch besaß, befand sich in diesem Haus, den Rest hatte sie verkauft. Sie ging in das Badezimmer und kämmte sich ihr Haar. Sie sah nicht in den Spiegel. Ihr Blick fiel auf die vielen Medikamentenschachteln, die ordentlich nebeneinander gereiht auf dem kleinen Badezimmerschränkchen standen. "Die Chancen auf eine Heilung sind bei Ihrer Art von Krebs relativ hoch." Ihr klang der Satz ihres Arztes in den Ohren, als ob er ihn erst gestern gesagt hätte. Aber es war jetzt fast ein Jahr her, dass sie die Diagnose bekommen hatte, und das Wort "relativ" hatte sich für sie in ein "nicht" verwandelt. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr noch gegeben wurde, und wollte es auch nicht erfahren.

Die Uhr schlug zehn, und sie begann nervös zu werden. Bald würde es so weit sein. Sie verließ das Bad und ging in das kleine Schlafzimmer mit den eisblauen Wänden. Das Bett war frisch bezogen und beanspruchte fast den gesamten Raum des Zimmers. Sie legte sich auf das Bett und schloss die Augen.

Ihr Atem war regelmäßig und tief, aber sie schlief nicht. Sie lauschte. Der Donner kam näher, es war wohl doch das Gewitter.

Die Dämmerung breitete sich aus und hüllte alles in ein verschwommenes Licht. Trotz der Wolken waren vereinzelt Sterne am Himmel zu erkennen. Die Uhr schlug erneut, elf Töne nun. Sie zählte jeden leise mit und öffnete ihre Augen, als sie aufhörten.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Sie machte kein Licht an. Ihr Körper schmerzte, so wie jeden Tag. Obwohl das Bett weich war, kam es ihr vor, als würde sie auf dem nackten Boden liegen. Sie hatte seit Beginn der Krankheit Kilo um Kilo verloren, und doch fühlte sie sich schwerer als Blei.

Langsam setzte sie sich auf und stieg aus dem Bett. Es war halb zwölf. Sie ging zurück in das Badezimmer und nahm eine der Medikamentenschachteln. Das stärkste ihrer Schmerzmittel. Heute Nacht wollte sie keine Schmerzen haben. Sie legte die Schachtel in ihre Handtasche und überlegte einen Moment, ob sie ihre Schuhe anziehen sollte. Sie blieb barfuß. Begleitet von einem leisen Knarren der alten Dielen öffnete sie die Haustür und trat ins Freie. Sie schloss die Tür ab.

Der Wind war kühl geworden und erste Regentropfen begannen zu fallen. Der nasse Sand unter ihren nackten Füßen fühlte sich gut an.

Sie ging den schmalen Holzweg hinunter zum Strand, zu der Stelle, an der sie sich verabredet hatten. Sie war etwas zu früh dran. Ein alter, vertrockneter Baumstumpf lag dort im Sand und sah aus, als hätte er hier schon seit Beginn der Zeit gelegen. Sie setzte sich darauf und öffnete ihre Handtasche. Die kleine Schachtel strahlte fast, so weiß war sie. Ein Donner krachte erneut, diesmal lauter und schon fast bedrohlich, aber sie fürchtete sich nicht. Sie öffnete die Schachtel und betrachtete die vielen bunten Kapseln, die sich in ihr befanden. Keine Schmerzen mehr. Sie nahm eine, und noch eine, und noch eine. Sie saß da und nahm eine Kapsel nach der anderen. Ein weiterer Donner. Die leere Schachtel fiel zu Boden. Es war zwölf, sie wusste es. Und er war da, er stand im Wasser. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Er war so schön, genau wie sie sich ihn vorgestellt hatte. Sie taumelte, konnte sich aber gerade noch halten. Er streckte seine Hand nach ihr aus, sagte aber kein Wort. Ihre Füße berührten das Wasser. So kalt. Aber sie spürte es kaum. Sie ging weiter und das kalte, graue Meer ging ihr schon bis zur Hüfte. Es war nicht mehr weit. Nun begannen die Blitze, und der Regen prasselte auf den von Wellen zerwühlten Ozean. "Es ist nicht mehr weit", der einzige klare Gedanke, den sie noch fassen konnte. Das Wasser reichte ihr nun bis knapp unter das Kinn. Ihre Lippen waren ganz blau, aber sie lächelten. Ihr blondes Haar klebte nun fast grau schimmernd an ihrer nassen Haut.

"Nur noch ein Schritt", klang es in ihrem Kopf. Ein Schritt. Der letzte Schritt. Sie hatte ihn erreicht.


taz Nr. 7191 vom 25.10.2003, Seite 15, 166 TAZ-Bericht STEPHANIE WOHLERS

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(Herzlichen Dank der TAZ, dass wir die Strand-Geschichten des Sommer-Schreibwettbewerbs 2003 hier auf watt-meer.de veröffentlichen dürfen.)


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